Humanismus:
Eine Weltanschauung, die zur Selbstreflexion und Mündigkeit verpflichtet

GASTBEITRAG

In den letzten Jahrzehnten hat der Konsum dramatisch zugenommen, und wir haben als Individuen Zugang zu Technologien und Informationen, von denen in der Vergangenheit niemand zu träumen gewagt hätte. Während dies zwar ein gewisses Ablenkungspotenzial birgt, bietet jedoch die Befriedigung unserer Grundbedürfnisse einen fruchtbaren Boden für tiefere Fragen und Selbstverwirklichung1. Das ist natürlich positiv, aber auch die gestiegene Verantwortung des Einzelnen ist beträchtlich: Unter dem Gesichtspunkt des Konsums müssen wir entscheiden, wie viel und was wir vor dem Hintergrund der Erschöpfung der natürlichen Ressourcen und des Klimawandels konsumieren wollen. Was die Information betrifft, so müssen wir angesichts der schieren Menge an Material entscheiden, was wir als wahr akzeptieren und was wir veröffentlichen und weitergeben wollen. Als wäre die Realität, mit der der Einzelne konfrontiert ist, nicht schon komplex genug, kommt noch hinzu, dass sich die Technologie in rasender Geschwindigkeit weiterentwickelt. Phänomene wie soziale Medien und Distributed-Ledger-Technologien verändern unsere Lebensweise grundlegend (nicht unbedingt auf negative Weise), während die meisten von uns kaum bis gar nicht verstehen, was unter der Motorhaube passiert. Selbst als Kollektiv sind wir noch dabei, uns mit den weitreichenden Auswirkungen solcher Technologien auseinanderzusetzen: So viele Daten über so viele Personen zu haben, bedeutet, dass wir leicht gezielt und maßgeschneidert für ein bestimmtes Ziel beeinflusst werden können, wie es bei den amerikanischen Wahlen geschehen ist2. Ebenso besorgniserregend ist, dass wir noch weit davon entfernt sind, die psychologischen Auswirkungen solcher Technologien auf die Gesellschaft und insbesondere auf Kinder zu verstehen3.

Zuerst veröffentlicht wurde dieser Text in der englischen Originalfassung in Ausgabe 17 der Zeitschrift SHARE, herausgegeben von der Stiftung Philosophy Sharing, Malta. Übersetzung: Arik Platzek

In einer sich schnell verändernden und komplexen Welt entwickelt sich die gängige Weltanschauung natürlich weiter. Und obwohl sich die Mehrheit der Menschen in der westlichen Welt mit einer der großen Religionen identifiziert, hat sich das, was das bedeutet, dramatisch verändert: Erlösung wird viel mehr vom wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt erwartet als von einem übernatürlichen Wesen4. Genau wie biologische Organismen entwickeln sich Weltanschauungen im Rahmen eines Wettbewerbs um das Überleben der Fittesten. Fitness in diesem Sinne kann verschiedene Aspekte betreffen, z. B. wie erfolgreich sie ist, um Harmonie in die soziale Ordnung des Tages zu bringen, wie hilfreich sie für die Menschen ist, um ihrem Leben einen Sinn zu geben und es zu bewältigen und so weiter. Elemente einer Weltanschauung, die in dem Kontext, in dem sich die Gesellschaft zu dieser Zeit befindet, keinen Sinn ergeben, verschwinden und werden durch neue ersetzt.

Die großen Weltreligionen haben zwar ihre theologischen Traditionen, aber sie sind auch offen für wissenschaftliche Entdeckungen und rationales Denken. Ein Beispiel dafür ist die römisch-katholische Kirche seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Dennoch haben diese religiösen Organisationen Schwierigkeiten, mit dem Tempo der modernen Entwicklungen Schritt zu halten, und werden in der Regel als langsam wahrgenommen, wenn es darum geht, auf neue Realitäten zu reagieren und sich ihnen anzupassen.

Es ist allgemein bekannt, dass viele religiöse Menschen (z. B. in Malta5) die Lehren ihrer Religion zu bestimmten Aspekten nicht befolgen. Dies könnte einfach das Ergebnis von Gleichgültigkeit sein, könnte aber auch darauf hindeuten, dass mehr Menschen nach ihrem eigenen moralischen Urteil handeln. Es hat den Anschein, dass die Gläubigen zunächst eine Religion als Bezugspunkt nehmen, diese dann aber entsprechend ihrer rationalen Überlegungen anpassen.

Eine solche vernunftbasierte Haltung ist das Herzstück des Humanismus, der behauptet, dass wir als Menschen allein für uns selbst verantwortlich sind. Humanismus ist eine Weltanschauung, die den Menschen per Definition dazu ermutigt, die Verantwortung für sein eigenes Leben zu übernehmen, das eigene Leben sinvnoll zu gestalten und ethische Entscheidungen auf der Grundlage von Vernunft und Mitgefühl zu treffen. Natürlich ist das in der Praxis nicht so einfach; man ist selten frei, moralische Entscheidungen zu treffen, ohne dabei erheblichen Zwängen, konkurrierenden Prioritäten, Rücksichtnahme auf die Rechte und Freiheiten anderer und Ungewissheit über die Ergebnisse der eigenen Entscheidungen ausgesetzt zu sein.

Humanismus ist alles andere als neu. Auch wenn das Wort „Humanist“ damals noch nicht für Humanist*innen verwendet wurde, finden sich ähnliche Überzeugungen und Werte bereits im 6. Jahrhundert v. Chr. in Gemeinschaften und Zivilisationen auf der ganzen Welt, insbesondere in der antiken griechischen Philosophie. Obwohl der Humanismus zweifellos stark vom Christentum beeinflusst wurde (es wird vermutet, dass er sich in seiner heutigen Form aus dem Christentum entwickelt hat6), unterscheidet er sich deutlich vom Christentum, wenn es um das Vertrauen in die Urteilskraft des Einzelnen geht. Humanismus definiert sich zwar lose über eine Reihe von Grundprinzipien, weigert sich aber, so etwas wie ein Glaubensbekenntnis oder eine feste Definition dessen, was moralisch gut oder böse ist, zu definieren. Vielmehr geht es darum, sich auf die Werkzeuge zu einigen (im weitesten Sinne: Vernunft, Logik und Mitgefühl), die der Einzelne im Umgang mit der Ambiguität des Lebens einsetzen soll.

Der Humanismus ist eine fortschreitende Entwicklung, die Meinungsverschiedenheiten und Verbesserungsmöglichkeiten zulässt. Nicht alle Humanist*innen sind sich in allen Fragen einig; Menschen, die dieselben ethischen Grundprinzipien und nicht-ethischen Werte teilen, werden wahrscheinlich immer uneins darüber sein, wie sie diese genau anwenden sollen. Zum Beispiel sagen viele Humanist*innen, dass unser Verständnis der Welt über Wissenschaft und Rationalität hinausgeht; dass unsere gemeinsame Tradition von Kunst und Literatur und die Erfahrung von Liebe, Trauer und Schönheit – unser tiefgründiges Innenleben – uns ein tieferes, aber nicht-wissenschaftliches Verständnis des Lebens vermitteln. Auch in der Frage des Tierschutzes sind sich die Humanist*innen nicht einig. Einige argumentieren, dass diejenigen, die bestimmte Lebewesen bevorzugen, nur weil sie ihrer eigenen Spezies angehören, sich in die gleiche Haltung begeben wie Rassist*innen, die die Angehörigen ihrer eigenen „Rasse“ bevorzugen; einige fragen, wie ein höherer Grad an Intelligenz den Menschen dazu berechtigen kann, Nichtmenschen auszubeuten; andere Humanist*innen essen Fleisch und verwenden tierische Produkte.

Philosophisch gesehen gibt es verschiedene Spielarten des Humanismus, aber ich konzentriere mich hier auf die existenzielle Variante7, die davon ausgeht, dass der Mensch bei seiner Entstehung weder ein bestimmtes Wesen noch einen bestimmten Status hat. Mit Simone de Beauvoirs Ethik der Mehrdeutigkeit8 [Ambiguität, d. Red.] als Wegweiser gibt es drei wesentliche Bestandteile, um eine freie Person zu werden, die Voraussetzung für jede moralische Entscheidung: (i) Anerkennung der Ambiguität, d. h., dass es keine absoluten ethischen Werte gibt, weil alles außerhalb der menschlichen Sphäre bedeutungslos ist; (ii) die Entscheidung, angesichts der Ambiguität trotzdem zu handeln; und (iii) sicherzustellen, dass eine solche Handlung ethisch ist, indem die Freiheit des Selbst und der anderen im Mittelpunkt aller moralischen Entscheidungen steht.

Interessanterweise stimmt die existenzielle Position mit der Idee des Anatheismus9 des katholischen Philosophen Richard Kearney überein, der anerkennt, dass es sinnvoll ist, die strengen Vorstellungen von „Gott“ und Religion (die wir mit der Anerkennung von Mehrdeutigkeit gleichsetzen können) aufzugeben, um ein authentischeres Handeln zu entdecken, das den „Fremden“ einschließt und sich um Gerechtigkeit bemüht (was mit dem Einsatz für die Freiheit der anderen gleichgesetzt werden kann). Aus dieser Perspektive betrachtet, hat die menschliche Erfahrung eine Gemeinsamkeit, die über Religionen und Weltanschauungen hinausgeht. Und obwohl die existenzialistische Weltanschauung ihre Anhänger ermutigen sollte, die Absurdität des Lebens zu akzeptieren und einen offenen Geist zu bewahren, bedeutet dies nicht, dass alle Humanist*innen dieselbe Position vertreten. Die Versuchung zu „erklären“, wie Camus es ausdrückt, führt häufig dazu, dass „der abstrakte Philosoph und der religiöse Philosoph […] sich gegenseitig in derselben Angst unterstützen“ und zu einer „extremen Rationalisierung der Wirklichkeit, die dazu neigt, diesen Gedanken in Standardgründe zu zerlegen, und ihrer extremen Irrationalisierung, die dazu neigt, sie zu vergöttern“10 führen. In Abkehr von beiden Extremen sehe ich den Humanismus eher als ein Bekenntnis zur „kritischen Hinterfragung der eigenen Wahrheiten“, zu „ethischen Normen und sinnvollen Erzählungen“, als „eine säkulare Heilslehre: der ‚naive Optimismus‘, der behauptet, dass der Aberglaube (sei er religiös oder nicht) beseitigt und durch den ‚Triumph des Glücks und der Tugend‘ ersetzt werden kann“11.

Humanismus ist weit davon entfernt, statisch zu sein, und der Schwerpunkt und die Richtung, die die humanistische Bewegung (auf nationaler Ebene und darüber hinaus) einschlägt, ist in hohem Maße eine Reaktion auf ihr Umfeld12: In Ländern, in denen es immer noch einen schwerwiegenden Mangel an Gedankenfreiheit gibt, neigen humanistische Vereinigungen dazu, sich auf die Philosophie der Aufklärung zu konzentrieren und Wissenschaft und Vernunft zu fördern – manchmal auf „militante“ Weise, wie es die Situation erfordert. In anderen Fällen, in denen der Säkularismus vorausgesetzt wird und die Menschen nicht mehr für ihre Rechte kämpfen müssen, liegt der Schwerpunkt eher darauf, den Einzelnen dabei zu unterstützen, ein sinnvolles ethisches Leben zu führen, das von Ideen wie dem Existenzialismus inspiriert ist. Diesem Trend folgend könnte man erwarten, dass in einer Zukunft, in der es keine Religion mehr gibt, humanistische Vereinigungen (beeinflusst vom poststrukturalistischen Denken) sich mehr auf die Art und Weise konzentrieren werden, wie menschliche Freiheiten durch moderne Machtstrukturen subtil ausgehöhlt werden können, und wie kulturelle Vorurteile dazu führen können, dass Gesellschaften blinde Flecken für moralische Nuancen haben. Diese Entwicklung ist besonders interessant im Zusammenhang mit der immer stärkeren Präsenz des Humanismus in vielen Ländern und Kulturen. Mit den Humanists International, die inzwischen 62 Länder umspannen, ist es nur eine Frage der Zeit, bis das westliche Denken sein Monopol auf die internationale humanistische Bewegung verlieren wird.

Aus dieser Perspektive ist das gemeinsame Thema der humanistischen Organisationen nicht so sehr die genaue Philosophie, für die sie eintreten, sondern eher eine Ausrichtung zu höherer Reife als einer Antwort auf den Kontext, in dem sie sich befinden. Nach der globalen philosophischen Ausrichtung zu urteilen, würde man einen Humanismus erwarten, der sich seiner selbst weniger sicher ist, der mehr Wert auf den Dialog legt und der vor allem dem philosophischen Ruf nach Weisheit und dessen Auswirkungen auf die Menschheit und den Rest des Universums verpflichtet ist.

Christian Colombo ist Vorsitzender der Malta Humanist Association. Die Vereinigung wurde 2010 gegründet und ist Mitglied der Humanists International. Sie setzt sich für Säkularität und eine auf Vernunft basierende Moral ein. Sie war eine starke Stimme während der Kampagne zum Scheidungsreferendum in Malta, ihre Mitglieder kämpfen für die Rechte von LGBTI+ und bieten neben vielen anderen Diensten auch humanistische Zeremonien an. Christian Colombo‘s Profil bei Facebook.

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2 Antworts

  1. Ro Laudan sagt:

    Ein Humanist wie ein Agnostiker ist ein erahrungs- und
    erkenntnismäßig zu kurz gesprungener Atheist.

    Ich war selbst einer!

  2. Du warst was für einer? Ein Humanist, ein Agnostiker oder ein Atheist?

    Und zum Text, dem folge ich jetzt nicht – da jeder Humanist ja ein Atheist ist. Daher kann er per definitionem nicht zu kurz springen, nur in den eigenen Fußstapfen landen 🙂

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